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Stefan Hakenberg

Kinderkreuzzug

Kompositorische Folgen der Arbeit mit Jugendlichen

 

Von1990 bis 92 habe ich für die Oper der Stadt Köln mit kompositorisch wenig bis unerfahrenen Jugendlichen eine Oper geschrieben. Der inzwischen leider verstorbene Claus Henneberg, damals Dramaturg an der Oper der Stadt Köln, hatte dafür einen Stoff vorgeschlagen, der sich in vielerlei Hinsicht als angemessen erwies: Marcel Schwobs Der Kinderkreuzzug. Immer mehr Kinder aus Europa machen sich auf den Weg nach Jerusalem, um dort das Grab des Heiland zu befreien. Ihre Motive sind vielschichtig: religiöser Fanatismus, Abenteuerlust, Liebe, Hoffnung auf Heilung von Krankheiten, Frustration durch die Eltern, das Gefühl der Stärke durch Gruppenzugehörigkeit. Auf dem Mittelmeer kommen die meisten der Kinder schließlich in Stürmen ums Leben, andere werden von Piraten entführt und in Arabien verkauft. Der Rest stirbt in der arabischen Wüste. Unterwegs begegnen ihnen die unterschiedlichsten Menschen. Ein alkoholkranker Bettelmönch, vergeht sich an den Kindern. Ein Aussätziger erhofft sich von ihnen Heilung. In Marseille, von wo aus die Kinder mit dem Schiff das Mittelmeer überqueren wollen, werden sie wegen ihrer großen Zahl zu einem Versorgungsproblem. Um eine Hungersnot abzuwenden, entscheiden sich die marseiller Patrizier, den Kindern Schiffe für die Überfahrt zu gewähren. Pabst Innozenz gibt nach genauer Prüfung und unter großer Besorgnis den Kindern seinen Segen. Innozenz glaubt, daß der Kinderkreuzzug die Stärke des christlichen Glaubens dokumentiere, während ein arabischer Gelehrter in ihnen die Gefahren der Irrgläubigkeit dokumentiert sieht und erleichtert ist, daß die Kinder nun, unter der Obhut moslemischer Familien, die rechte Fürsorge erhalten. Viele Jahre nach dem Kinderkreuzzug wünscht sich Pabst Gregor die Entscheidung seines Vorgängers ungeschehen machen zu können.

Die Oper ist in acht Szenen und ein Vorspiel gegliedert, wobei in jeder der Szenen eine andere Person oder Personengruppe dargestellt wird. Nicht in allen Szenen treten die zu Kreuze ziehenden Kinder auf, in manchen nur sie. Das Libretto, das ich ebenfalls mit den Jugendlichen erstellt hatte, erscheint gemäß der Schwobschen Vorlage formal als Gegenüberstellung einer Kette kontrastierender Charakterskizzen einerseits und der die ganze Oper überspannenden Entwicklung des Kreuzzuges andererseits.

Form der Oper DER KINDERKREUZZUG von Stefan Hakenberg

Diese Struktur habe ich zur Grundlage meiner musikalischen Disposition gemacht. Ich suchte nach einer kompositorischen Vorgehensweise, die sowohl Prägnanz der Charakterkontraste, als auch eine Repräsentation der Kreuzzugsentwicklung generieren und gleichzeitig das Erarbeiten des Stückes mit einer Gruppe von Jugendlichen sinnvoll machen würde. In der Gewißheit, daß ich bei größtmöglicher Offenheit und Hilfsbereitschaft meinerseits den Ideen der jugendlichen Komponisten gegenüber auf die Individualität ihrer Musik vertrauen konnte und so ausreichend kontrastierende musikalische Einfälle erhalten würde, teilte ich die Gruppe in Untergruppen von einem bis drei Jugendlichen und teilte ihnen Kompositionsaufgaben entlang der Charakterwechsel zu. Um die szenenübergreifende Entwicklung des Kinderkreuzzuges zu repräsentieren war es den Komponisten der einzelnen Szenen aufgetragen, ein Kreuzzugslied, welches der Komponist des Vorspiels geschrieben hatte, in szenengerechter Weise zu variieren und mit einzukomponieren.

Wesentlich für die kompositorische Materialdisposition war im Kinderkreuzzug also die Zuteilung von Kompositionsaufgaben an verschiedene Komponisten. Dadurch konnte, unabhängig von der tatsächlichen Erfüllung der zugeordneten Aufgaben, im Ganzen ein Stück entstehen, dessen Entstehungsprozeß bereits einen sinnvollen Zusammenhang mit dem Libretto bildete. Unkontrolliert und dadurch immer wieder überraschend entstanden durch die Auflage, gelegentlich das Kreuzzugslied in variierter Form mit einzubeziehen, musikalische Querverweise, die das Verfolgen der szenenübergreifenden dramatischen Entwicklung nachzeichnen. Diese in gewissem Sinne aleatorische Disposition schuf Raum für die Integration einer Vielzahl individueller, persönlicher Ausdrucksweisen, die nicht aus einer homogenen motivisch-thematischen Genealogie entwickelt wurden.

Vorbilder für meine Arbeit am Kinderkreuzzug fand ich insbesondere in zwei Projekten, die während meiner Studienzeit bei Hans Werner Henze stattfanden: in den Komunalopern Robert der Teufel und Die Regentrude. In Robert der Teufel wurde, wie später im Kinderkreuzzug, das kontrastierende Ausgangsmaterial durch die Verteilung von Kompositionsaufgaben an verschiedene Jugendliche erstellt. Die Oper schrieben Schüler einer Jugendmusikschule in der Steiermark unter Anleitung von Henze und Gerd Kühr zu einem Libretto von Elfriede Jelinek. Die Hauptfigur Robert hält die elterliche Apathie angesichts der überwältigenden Ungerechtigkeit in der Welt nicht mehr aus und entwickelt sich zu einem anarchischen - steirischen - Robin Hood. Henze lud mich 1985 ein, aus zuerst von den Jugendlichen komponierten Charakterstücken, die von Steirischen Naturgeistern inspiriert waren, Rezitative, Melodramen, Zwischenspiele und Überleitungen zu erstellen. Weiteres Material für meine Arbeit konnte ich den ausschließlich klavierbegleiteten Arien und Ensembles, die Kühr mit den Jugendlichen komponiert hatte entnehmen. Durch die stilistischen Unterschiede zwischen den einzelnen Komponisten ergaben sich Verbindungen zwischen ihren Geisterstücken, Arien und Ensembles, die ich dann zur Bildung von Zusammenhängen und Kontrasten in der gleichsam im Montageverfahren entstehenden Partitur verwendete. In der Regentrude, die Henze 1986/87 mit seinen Kölner Studenten für die vereinigten Liebhaberensembles der hessischen Stadt Alsfeld komponierte, schrieben wir, ähnlich wie in Robert der Teufel, zunächst Charaktervignetten, die dann später als Themen für alles weitere Komponieren für jeden verbindlich und immer aufs neue variiert wurden. Zunächst hat mich am Kinderkreuzzug, an Robert der Teufel und an der Regentrude wie auch an den zahlreichen weiteren Kompositionsprojekten mit Amateuren, die ich seit 1989 in Zusammenarbeit mit David Graham durchgeführt habe, besonders die Disposition der Kompositionsprozesse interessiert. Wie können eine Mehrzahl von (Amateur-)Komponisten in die Erarbeitung einer größeren Partitur so eingebunden werden, daß eine sinnfällige Einheit entsteht? In Gretel und die Hexe zum Beispiel, in Zusammenarbeit mit Graham 1995/96 mit Schülern der Niederrheinischen Musikschule in Duisburg geschrieben, waren die Kompositionsaufgaben nicht ohne weiteres entlang der Charaktergrenzen im Libretto zu verteilen. Im Großen und Ganzen geht es in dieser Oper um eine Auseinandersetzung. Auf der einen Seite steht die Hexe, eine Rockröhre, die mit ihrer Show Gretels Bruder und Freunde zu gehirntoten Fans macht. Ihr gegenüber steht Gretel, die am Schluß aus Verzweiflung über den Verlust ihres Bruders anfängt zu singen, wodurch sie sich in der Lage findet, sich der Hexe widersetzen und sie überwinden zu können. In diesem Fall wählten wir als grundsätzliche Kompositionsdisposition fundamental kontrastierende Kompositionsweisen zur Repräsentation der beiden Hauptfiguren und ihrer jeweiligen Wirkungskreise. Musik, die mit der Gestalt der Hexe verbundene ist, sollte repetitiv sein, wogen sich die Gretel-Musik ständig entwickelt.

Im Laufe der Zeit hat sich mein Interesse am Komponieren mit Amateuren etwas verschoben. Inzwischen fasziniert mich an diesen Projekten die Tatsache, daß in jedem der entstandenen Stücke eine Anzahl diverser, voneinander unabhängiger musikalischer Stimmen zu Worte gekommen ist, die im (theatralischen) Zusammenhang sinnvoll waren, ohne homogen konstruiert zu sein. Für mich ist für immer wichtiger geworden, daß das musikalische Material einer Komposition keinen (unmittelbar erkennbaren) gemeinsamen “Kern” haben muß, um ein sinnvolles, zusammenhängendes Stück zu ergeben. 1998 erhielt ich den Auftrag, ein Stück für die Eröffnung eines neuen Zentrums für das Studium Asiens an der Harvard University zu schreiben. Mir standen für die Aufführung drei asiatische Zitherinstrumente (ein japanisches Koto, ein koreanisches Kayagum, ein chinesisches Guzheng) und eine koreanische Trommel (Changgu) zur Verfügung. Entsprechend meiner in den letzten Jahren gesammelten Erkenntnisse habe ich mir vorgestellt, daß die einzelnen Instrumentalstimmen Studierende im neuen Zentrum repräsentieren. Gemeinsam erarbeiten sie Themen und kommen unter Anwendung ihrer jeweils kulturell unterschiedlichen Erfahrungen zu Ergebnissen, die nur durch das Zusammenarbeiten ermöglicht, aber dann, auf Grund der unterschiedlichen kulturellen Hintergründe, auch wieder unterschiedlich interpretiert werden. Daraus ergab sich für die musikalische Disposition, daß ich Originalmusiken aus den jeweiligen Repertoires benutzte. Keiner der Instrumentalisten spielt Phrasen, die er nicht schon bereits früher gespielt hat, jedoch nun in einem ihm völlig neuen musikalischen Zusammenhang. Ich nannte dieses Stück Three Zithers and a Pair of Scissors. Der musikalische Eindruck für den Hörer wird damit auch von dem kulturellen Hintergrund abhängig, aus dem er stammt. Für den Kenner japanischer Musik tritt beispielsweise, wie Grundtöne in Akkorden, der Kotopart als Hauptstimme hervor. Ein Europäer mag die Ausgewogenheit der Stimmen und die Harmonik goutieren. Dieselbe Abhängigkeit vom kulturellen Hintergrund gilt für das Verständnis der Spieler (und des Komponisten) für das Stück. Niemand kann das Stück ganz verstehen oder seine Wirkung ganz absehen. ähnlich wie die jugendlichen Komponisten im Kinderkreuzzug können die Interpreten von Three Zithers and a Pair of Scissors nur ihre Vorstellungskraft einbringen und im Rahmen ihrer Erfahrung sensibel aufeinander reagieren. Die einzelnen Stimmen in jedem der fünf Sätze des Stückes sind wesentlich abstrakter miteinander verbunden als etwa durch motivisch-thematische Imitation. In jedem der Sätze beantworten die Instrumentalstimmen gewissermaßen eine Frage. Für das erste Stück, Clang, heißt die Frage zum Beispiel: “Was in Deinem Repertoire könnte den Klang eines Beckens repräsentieren?” Für das zweite Stück, Hum, lautet sie: “Was ähnelt dem Klang einer Harfe?” Indem ich diese Fragen beantwortete, erhielt ich Kollektionen von diversen Materialien, die ich dann entsprechend meiner Vorlieben komponiert habe.

Partiturausschnitt aus CLANG von Stefan Hakenberg
zweiter Partiturausschnitt von CLANG von Stefan Hakenberg

In meinem 1999 für die Fromm Players geschriebenen Stück Jacques für acht Instrumente habe ich beim Komponieren aleatorische Prozesse benutzt, um eine mir unbekannte, fremde, Kompositionsvorlage zu erhalten. Die Werte einer großen Anzahl von Parametern wie Register, Tonhöhenorganisation, Harmonik, Rhythmik etc. habe ich erwürfelt. Wie beim Komponieren mit Amateuren konnte durch das Würfeln eine Anzahl von Antworten ausgelöst werden, die Fragen aber formulierte ich selbst, um damit einen Einfluß auf das Ergebnis zu haben. Als wäre ich mit einem ersten Versuch eines an einem Kompositionsprojekt Beteiligten konfrontiert, versuchte ich dann, die so entstandenen Vorlagen in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen und sie zu einem aus meiner Sicht fertigen Stücken zu konkretisieren. Für mich birgt diese Art des Komponierens - ähnlich demjenigen mit Amateuren - die Möglichkeit, mit unerwarteten, weil neuen, Situationen umzugehen und zu versuchen, sie mir anzueignen.

So ist in den Kompositionsprojekten mit Kindern und Jugendlichen teilweise die Art und Weise geprägt worden, wie ich mich kompositorisch mit meiner Umgebung auseinandersetze; in meinen Stücken wende ich diese Erfahrungen an. Als ästhetisches Ideal hat sich in meiner Arbeit die Idee der Integration divergierenden Materials entwickelt. Das erfordert das Erfahren und \überschreiten von Grenzen, die Charakter bedingt, sozial, geographisch oder kulturell bedingt sein können. Im Rahmen des von Jocelyn Clark und mir durchgeführten internationalen Musikfestivals CrossSound in Südost-Alaska werden wir dieses Ideal durch die Vergabe von Kompositionsaufträgen für Ensembles, in denen Amateure und Profis, einheimische und ausländische, westliche und östliche Musiker zusammenspielen, gleichsam zur ästhetischen Diskussion stellen. CrossSound findet im Sommer 1999 zum ersten Mal statt. Die Gastsolisten sind Ji Aeri (Kayagum) und Phoebe Carrai (Barock Cello). Sie musizieren gemeinsam mit einem Ensemble aus in Juneau, Alaska ansässigen Musikern, die Flöte, Oboe, Trompete, Horn, Euphonium, Geige und Bratsche spielen. Der australische Komponist Elliott Gyger schreibt für das Blechblastrio eine Reihe kleiner Antiphonien, die als Intermezzi eines der beiden diesjährigen Konzerte durchziehen. Der in Deutschland weitgehend bekannte Cord Meijering steuert ein Stück für Flöte, Bratsche, Kayagum und Changgu bei. Kolleen Park, die am Nationalen Volksmusikinstitut der Seoul National University Komposition studiert hat und als Komponistin und Dirigentin Koreanischer Musicals hervorgetreten ist komponiert für Barockcello, Kayagum und Changgu. Der in Japan wohl erfolgreichste Komponist seiner Generation, Toshiro Saruya, der in Deutschland besonders durch eine Puppenoper für die Münchener Bienale aufgefallen ist, schreibt ein Stück für das Ensemble aus Juneau und der Tristan Murail-Schüler Oliver Schneller hat sich die Kombination Barockcello, Flöte, Oboe und Trompete gewählt. Darüber hinaus spielen Ji Aeri und Phoebe Carrai bereits existierende Stücke des jungen New Yorker Filmkomponisten Dan Coleman und des Begründers moderner Kayagummusik, Hwang Byung-Ki. Für die Zukunft ist CrossSound als Tournee Festival geplant, das mehr und mehr andere Orte Südost-Alaskas einbeziehen wird. Dabei bemühen wir uns auch darum, im Laufe der Zeit die Indianersiedlungen zur Teilnahme zu gewinnen. Regelmäßig sollen Projekte durchgeführt werden, bei denen Gastkomponisten mit Kindern, Jugendlichen und interessierten Amateuren gemeinsam Stücke komponieren und aufführen.

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